Judith Bodendörfer | KONVERS − Netzwerk politische Bildung gegen Verschwörungsideologien
Verschwörungstheorien waren zu meiner Schulzeit gerade groß in Mode. Sie prägten die Plots der großen Blockbuster, wie Matrix, Akte X oder Staatsfeind Nr. 1, und das Wissen um ihre Symbolik gehörte zum kulturellen Wissen. Wir erzählten sie uns auf dem Schulhof als moderne Formen der Schauergeschichte, deren fantastische Inhalte beeindruckten und die, wie jede gute Schauergeschichte, einen leisen unheimlichen Zweifel an der Realität zurückließen.
Fünfzehn Jahre später scheinen diese Geschichten verdeckter, vermeintlicher Realität zu einem Problem geworden zu sein, das viele Menschen als Bedrohung für die Demokratie wahrnehmen und das uns dazu veranlasst, noch einmal ganz neu darüber nachzudenken, was „Verschwörungstheorien“ eigentlich sind und wann, wie und ob man etwas gegen sie tun kann und muss. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat die Georg-von-Vollmar-Akademie das Projekt KONVERS – Netzwerk politische Bildung gegen Verschwörungsideologien ins Leben gerufen, dessen Leitung ich im Februar übernommen habe. Keine leichte Aufgabe: Eine Suche nach Antworten beginnt heute meist im Internet. Will man wissen, woher der Begriff „Verschwörungstheorie“ überhaupt stammt, kann man auf Wikipedia lesen, dass die seit den 1860er Jahren nachweisbare englische Bezeichnung „conspiracy theory“ durch das zweibändige Werk des Philosophen Karl Popper mit dem Titel „The Open Society and its Enemies“ von 1945 (dt. Titel: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“) populär wurde. Ich bestelle also das Buch und stoße auf das erste Hindernis. Es ist erstaunlich schwer, die Lektüre eines philosophischen Werks in den neuen Büroalltag zu integrieren. Nicht leichter ist es, die Lektüre eines philosophischen Werks in die ewig knappe Freizeit zu integrieren.
Und damit beginnt bereits mein Sturz in den so genannten „Kaninchenbau“ der Verschwörungstheorien: Ich finde nicht die Zeit, mir „Die offene Gesellschaft“ selbst anzulesen und versuche deshalb, wie so viele Menschen − vom Schüler bis zur Vorstandsvorsitzenden − im Internet eine verständliche Zusammenfassung des Inhalts zu finden; am liebsten als Podcast oder Video, so dass ich das Ganze nebenbei hören kann, während ich E-Mails beantworte oder nach passenden Schriftarten für diesen Beitrag suche.
Und ich werde schnell fündig. Bereits der zweite Vorschlag der Suchmaschine ist ein einstündiges Video, in dem ein Philosoph Karl Poppers Buch erklärt. Perfekt! Der Philosoph heißt Gunnar Kaiser. Er bespricht auf seinem Kanal KaiserTV Bücher, gesellschaftspolitische Entwicklungen und er interviewt Gäste. Ein paar kenne ich sogar. Es sind Professoren, bei denen ich während meines Studiums Seminare besucht habe. Das Video kommt mir nicht weiter auffällig vor, eher etwas langatmig. Kaiser redet viel über Freiheit und wenig über Verschwörungstheorien. Auch bei seinen anderen Videos geht es viel um Freiheit, aber auch um Kapitalismuskritik, um Angst vor dem Zusammenbruch der Gesellschaft, vor totalitären Verhältnissen in Deutschland und immer wieder um die Corona-Maßnahmen.
Ich stelle fest, dass Kaiser nur noch selten auf Youtube veröffentlicht. Er hat sich andere Publikationsplattformen gesucht, die weniger abhängig von Algorithmen und den Community-Regeln der gängigen Social Media-Plattformen sind. Auf der Suche nach seinen Videos, Texten und Projekten lande ich auf der Seite apolut. Gunnar Kaiser hat hier gemeinsam mit einem Kollegen ein Videoformat, bei dem sie vor Kaffeehauskulisse über Politik sprechen. apolut bezeichnet sich selbst als Medienplattform, die sich der Demokratie, Transparenz und Meinungsvielfalt verschrieben hat. Sie ist, laut eigenen Angaben, 100% userfinanziert und fühlt sich einer „positiven Streit- und Debattenkultur“ verpflichtet, um „inneren und äußeren Frieden“ zu bewahren. Auch hier schreibt ein Professor meiner ehemaligen Universität. So weit, so gut.
Aber bereits als ich auf einen der ersten Beiträge klicke, die mir auf der Seite angezeigt werden, lese ich, dass das, „was wir momentan als Krise in der westlichen Welt erleben […] nicht durch ein Naturereignis ausgelöst“ worden sei, sondern eine „vollkommen von Menschenhand“ geschaffene „gewünschte, fabrizierte Katastrophe“ sei. Der Beitrag warnt vor der Trilateralen Konferenz und den „Globalisten“, die angeblich „die totale Kontrolle über die Bevölkerung“ anstreben. Von „Strippenziehern“ ist immer wieder die Rede, die für die Corona-Pandemie verantwortlich seien, die zum „entscheidenden Schlag gegen das Volk“ ausholten, von Medien, die „lügen und betrügen“. In den Kommentaren zu diesem Artikel wird es dann richtig unangenehm und sehr eindeutig: „Es sind in jedem Falle die Rockefellers und die Rothschilds und ihre ganze Mischpoke, welche die USA regieren. Soll ich zur Freude der Trolle sagen, welcher Religionsgemeinschaft diese Leute angehören, oder lassen wir das heute mal weg?!“ schreibt ein User und ich frage mich, wo ich hier gelandet bin.
Eine Antwort darauf, was der Begriff „Verschwörungstheorie“ nun eigentlich bedeutet, habe ich damit nicht gefunden, aber ich habe festgestellt, dass eine von ehrlichem Interesse geleitete Suche nach Antworten, wenn man nicht aufpasst, sehr viel schneller bei verfassungsfeindlichen Ideologien und offenem, ungeschminktem Antisemitismus enden kann, als ich das für möglich gehalten hätte. Und klar wird auch: das Problem hat nicht unbedingt etwas mit dem Bildungsgrad zu tun. Verbreitet werden diese Ideen unter anderem von Menschen mit den höchsten akademischen Auszeichnungen, deren Aussagen in unserer Gesellschaft etwas zählen. Sie stammen mitunter aus der Mitte der bildungsbürgerlichen Gesellschaft. Umso drängender stellen sich damit die Fragen: Was ist eine Verschwörungstheorie? Wie kann man sie erkennen? Wann ist es wichtig, etwas gegen sie zu tun? Und was können wir gegen sie tun?
KONVERS ist ein Netzwerk aus Expertinnen und Experten und Menschen, die sich in der politischen Bildung engagieren. Gemeinsam mit ihnen machen wir uns auf die Suche, nach Antworten auf diese Fragen. Im Rahmen dieses Blogs werden in den kommenden Monaten alle zwei Wochen Menschen über ihrer Forschung und über ihre Erfahrungen im Umgang mit Verschwörungstheorien berichten. Im nächsten Beitrag spreche ich mit dem Psychologen Dr. Marius Raab über das Problem einer Definition des Begriffs „Verschwörungstheorie“.
Judith Bodendörfer war schon immer fasziniert von der fließenden Grenze zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen. Sie hat Religionswissenschaft, Philosophie und Soziologie studiert und ihre Doktorarbeit zur Geschichte der Esoterik im 19. und frühen 20. Jahrhundert geschrieben. Seit Februar 2023 ist sie die Leiterin des Modellprojekts KONVERS – Netzwerk politische Bildung gegen Verschwörungsideologien der Georg-von-Vollmar Akademie.