75 Jahre Georg-von-Vollmar-Akademie e.V. (1948-2023)

„Wirtschaftskritik und das Monopoly-Männchen“

Ein Gespräch mit Thomas Dürrmeier

Herr Dürrmeier, Sie engagieren sich für ein gerechteres Wirtschaftssystem. Wie begegnen Ihnen bei Ihrer Arbeit Verschwörungstheorien?

Die berechtigte Kritik an Konzernriesen wie Amazon oder Bayer-Monsanto beinhaltet Fallstricke. Darf ich zum Beispiel das Monopoly-Männchen als symbolische Darstellung eines Managers oder eines vermögenden Menschen verwenden? Die Antwort lautet: nein, weil die Bildsprache des Schnauzbarts und des Zylinders extrem stark mit der antisemitischen Verschwörungserzählungen aus dem nationalsozialistischen Deutschland verbunden ist. Solche Bilder ermöglichen es rechtsextremen Gruppen, ihre antidemokratischen Fake News in die gesellschaftliche Mitte zu tragen.

Was genau ist das Problem mit dem Monopoly-Männchen?

Kaufleute trugen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frack, Hut und oft Schnauzbärte als Modetrend. Eine große Zigarre war ein Statussymbol, wie heute das iPhone. Die Mehrheit der Unternehmenselite passte sich diesem Modetrend an, wie heute Aktenkoffer, Krawatte und Anzug. Die Eliten in Unternehmen, Banken oder Politik, insbesondere jüdische Kaufleute oder Intellektuelle, wurden in antisemitischen Verschwörungserzählungen mit diesem Aussehen identifiziert. Wie wir heute faschistische Propaganda-Begriffe wie „Arbeit macht frei“ oder „Gleichschaltung“ nicht mehr verwenden, sollten wir auch Symbole wie Zigarre und Zylinder für KapitalistInnen oder Superreiche vermeiden. Ein Aktenkoffer und eine Krawatte gehen doch auch. Kritik an Überreichtum ist legitim, aber antidemokratische oder menschenverachtende Verschwörungsmythen nicht.

Welche solcher Mythen hören Sie am häufigsten?

Es gibt viele einseitige Mythen über die Welt der Wirtschaft. Zu den menschenverachtenden Verschwörungserzählungen gehören u.a. übertriebene Erklärungen mit Zinseszinsen, bestimmte Formen von Finanzmarktanalysen, die Überschätzung der Macht von Konzernriesen oder Unternehmenseliten, als ob das Weltwirtschaftsforum in Davos, Bill Gates, die Rothschilds oder Blackrock die Welt absolut regieren und steuern würden.

Auch werden einige Wirtschaftstheorien wie die von Silvio Gesell oder Rudolf Steiner oft zu Verschwörungserzählungen verkürzt. Der Effekt des Zinseszinses, der zum nicht-linearen Wachstum von Geldvermögen führt, wird als Begründung für Krisen und Vermögenskonzentration vereinfacht und absolutiert. Tatsächlich führt der Effekt von Zinsen zu einem unendlichen Wachstum wie dem stetigen Wirtschaftswachstum, aber nur dann, wenn die reale Kapitalverzinsung oberhalb des Wirtschaftswachstums liegt. Diese übermäßige Verzinsung von Kapitaleinkommen, wenn sie oberhalb der Wachstumsraten oder Lohnabschlüsse liegt, führt zu einer Konzentration der Geldvermögen. Diesen Effekt (r>g) hat der französische Starökonom Thomas Piketty in seinem Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ ausführlich dargelegt. Der Effekt von Zinseszinsen kann aber allein nicht die Krisen im Kapitalismus erklären und er befeuert antisemitische und mittelalterliche Sprachbilder vom „bösen Zins“ und „raffendem Kapital“.

Noch verbreiteter und wirkmächtiger sind verkürzte Interpretationen von Eliten und Machtstrukturen. In vielen heutigen Verschwörungserzählungen schreiben Menschen Wirtschaftsakteuren wie Unternehmens- und Geldeliten, Großkonzernen, Finanzmärkten oder regelmäßigen Konferenzen die Macht zu, PolitikerInnen und Märkte wie Marionetten zu steuern. Die Bilderberg-Konferenz, das Weltwirtschaftsforum in Davos, die Stiftung von Bill und Melinda Gates, George Soros oder Blackrock werden zur Projektionsfläche für Verschwörungserzählungen über wirtschaftliche Zusammenhänge.

Wir haben Machtkonzentrationen in Großkonzernen oder Vermögenseliten, aber diese stehen immer in einem komplexen Kräfteverhältnis von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren. Wer die Welt der Wirtschaft als einfache mechanistische Welt einer kleinen Finanzelite sieht, glaubt das einzelne, wie etwa Bill Gates, für das Elend der Welt verantwortlich wären. Aber die Regierungen der führenden Industrienationen haben gerade eine Mindeststeuer für Digitalkonzerne eingeführt und Steuerflucht von Superreichen begrenzt. Wenn die Regulierung von künstlicher Intelligenz wie ChatGPT von Microsoft oder Bard von Google möglich ist, können Konzerneliten nicht die Welt regieren. Verschwörungsmythen versperren den Blick auf die notwendige politische Gestaltung der Weltwirtschaft. Einzelne mächtige Akteure und Konferenzen sind nicht das eigentliche Problem. Das ist vielmehr strukturell.

Was entgegnen Sie auf solche wirtschaftliche Verschwörungserzählungen?

Sie spiegeln nicht politische Realitäten wider. Das Bild ist komplexer. Sicher haben starke wirtschaftliche Unternehmen mehr Einfluss als der kleine Bioladen in Kochel, aber die Kräfteverhältnisse sind komplex und widersprüchlich. Große Unternehmen haben starken Lobbyeinfluss, wie die Bankenrettung während der Finanzkrise zeigt, aber Regierungen können, z.B. mit dem Lieferkettengesetz auch den Rechtsrahmen von Unternehmen verändern. Austausch und politische Bildung zu wirtschaftlichen Themen helfen, die Zusammenhänge zu verstehen.

Die verschiedenen Faktoren, wie öffentliche Aushandlungsprozesse, zivilgesellschaftliche Gegenspieler, wirtschaftssystemische Triebkräfte, wie Profitmaximierung, gehören auch zu einer Erklärung der weltwirtschaftlichen Entwicklung. Gesellschaft ist immer ein machtdurchdrungener Aushandlungsprozess. Wie bei David gegen Goliath können schwächere Akteure gewinnen und mächtige Eliten machen auch Fehler.

Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Verschwörungstheorie und gerechtfertigter Kritik an internen Absprachen und Lobbyismus?

Verschwörungserzählungen sind eine zu einfache Beschreibung der Welt. Sie sind keine Theorien. Wir haben in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zahlreiche Theorien wie die Elitentheorien, die Politikfeldanalyse, Neue Politische Ökonomik oder die Machtstrukturanalyse. Die empirischen und historischen Analysen zeigen, dass Unternehmens- oder Geldeliten Einfluss nehmen und wirtschaftliche Macht ausüben. Elon Musk hat Twitter gekauft und stark nach seinem Willen umgebaut, aber er beherrscht nicht den Diskursraum der sozialen Medien. In Krisenzeiten haben die mächtigsten Banker dem US-Finanzminister Rettungsgelder abgerungen, was der ehemalige IWF-Ökonom Simon Johnson akribisch in „13 Bankers“ dokumentiert hat. Das war zwar ein kleiner Kreis, aber dennoch gab es einen machtvollen Aushandlungsprozess zwischen der US-Regierung und Bankeneliten.

Netzwerke von Topmanagern und Superreichen haben die „neoliberale Konterrevolution“ der Mont Pelerin Gesellschaft unterstützt. Die Ökonomen der Freiburger Schule haben die Gründung der westdeutschen marktliberalen Konkurrenzwirtschaft maßgeblich durchgesetzt, aber alles fand in konfliktreichen historischen Prozessen statt. Niemand kann in einem Hinterzimmer die Zukunft der Welt planen und regieren.

Es gibt mächtige Eliten, aber jede Macht ist nur relativ und muss in gesellschaftlichen Konflikten und Einigungen realisiert werden. Wer die Welt mit einem einzigen Faktor erklärt, wie etwa „Bill Gates chipt uns“, „der Zinseszins-Effekt erklärt die gesamte Weltwirtschaft“ oder „der vom Weltwirtschaftsforum in Davos betriebene ‚Great Reset‘ ist eine Blaupause für die Staats- und Regierungschefs“ liegt falsch, weil die Welt vielschichtiger ist. Wir dürfen die Welt nicht auf einen Mechanismus vereinfachen.

Haben Sie das Gefühl extrem rechte Gruppierungen nutzen das Gefühl, dass es auf der Welt ungerecht zugeht, für Ihre Zwecke?

Insbesondere die steigende Armut und Ungleichheit wird von rechtsextremen Gruppen genutzt, um „Sündenböcke“ zu schaffen und Lösung in einer nationalistisch-rassistischen Erzählung einzubauen. Abstiegsängste der Menschen werden instrumentalisiert, um Rassismus und Verschwörungsideologien zu stärken. Kritisch sehe ich hier aber auch die falschen Prognosen der marktradikalen Denkfabriken, in denen demokratische Entscheidungen mit Umverteilungseffekten im Zuge eines autoritären Individualismus grundsätzlich als „Freiheitseinschränkung“ abgelehnt werden, wobei doch Demokratie auch die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung beinhaltet.

Wie lässt sich Kritik an der Macht der Konzerne äußern, ohne in die verschwörungsideologische oder antisemitische Falle zu tappen?

Wie es Katharina Nucun in ihrem Buch „True Facts“ beschreibt, helfen nur mühsame Gespräche, Widerspruch und das Fakten-Sandwich. Beim Fakten-Sandwich wiederholt man einen Fakt vor und nach der Widerlegung einer falschen Behauptung, die ihm entgegensteht. So bleibt eher der Fakt im Gedächtnis als die Behauptung, die leider oft stärkere kognitive Aufmerksamkeit erzeugt.

Außerdem müssen wir der Versuchung der Vereinfachung widerstehen und unsere Öffentlichkeit auf Fakten und wissenschaftliche Analysen aufbauen. Auch wenn alle Aussagen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften politische Wirkungen haben, weil z. B. Armut oder Wirtschaftswachstum nicht unpolitisch definierbar ist, müssen wir am oftmals mühsamen demokratischen Ringen um Aufklärung weiterarbeiten.

Was kann der:die einzelne wirklich tun, um sich für eine gerechtere Welt einzusetzen?

Die Welt ist komplex und jede:r sollte sich eine eigene Meinung aus kontroversen Beiträgen bilden. Wer die FAZ liest, sollte auch die taz lesen und umgekehrt. Wer die Argumente des Unternehmensverbands BDI gut findet, sollte auch die Studien der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung lesen.

Wir müssen wieder stärker miteinander sprechen als übereinander. Kräfte, die sich gegen unsere Demokratie stellen, wie die AfD oder rechtsextreme Gruppen, dürfen keinen Raum bekommen, aber deren Verschwörungsideologien mit Rassismus uvm. müssen öffentlich widerlegt werden. Hier darf es keine schweigende Mehrheit geben.

Meinungen und Stimmabgabe alleine sind keine lebendige Demokratie. Wir müssen täglich unsere Demokratie mit politischem Aktivismus leben, ob in Parteien, der Klimabewegung oder einer Nichtregierungsorganisation wie Goliathwatch, die die zu große Macht von Konzernriesen kritisiert.

Am einfachsten finden Sie ihre idealen demokratischen Tätigkeitsort, wenn sie den Handabdruck machen. www.handabdruck.eu. Und wer Wirtschaft plural verstehen will, kann gerne meine Bildungsangebote in der Vollmer-Akademie wahrnehmen oder das Einführungsbuch „Ökonomie der Internationale Entwicklung“ aus der Bibliothek ausleihen.

Dr. Thomas Dürrmeier ist promovierter Volkswirt und Geschäftsführer der Hamburger Nichtregieruingsorganisation Goliathwatch e.V. Er ist zudem Gründungsmitglied von LobbyControl, dem Netzwerk Plurale Ökonomik und sitzt im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland. Seit Jahren engagiert er sich für ein gerechteres Wirtschaftssystem und für die Einschränkung von Konzernmacht, aber auch gegen verschwörungsideologisches Denken.

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