75 Jahre Georg-von-Vollmar-Akademie e.V. (1948-2023)

„Sage mir Deine Verschwörungstheorie, und ich sage Dir, wer Du bist“

Ein Gespräch mit Marius Raab

Als ich meine Arbeit als Projektleiterin von KONVERS begann, schickte ich zunächst eine E-Mail an die Dozierenden der Georg-von-Vollmar-Akademie: ich wollte wissen, welche Erfahrungen sie in Seminaren mit Verschwörungstheorien gemacht hatten. Ich bekam zahlreiche Rückmeldungen, manche schilderten Vorfälle, andere nannten Tipps, die ihnen beim Umgang mit Verschwörungsgläubigen geholfen hatten. Und ein paar Mal erhielt ich auch die berechtigte Rückfrage, was ich denn genau unter dem Begriff „Verschwörungstheorie“ verstehen würde. Es bestand die Sorge, dass der Begriff als pauschale Abwertung von skeptischen Menschen verwendet würde und dazu diene, Menschen, die Bedenken äußern, ins Lächerliche zu ziehen und ihre Einwände zu ignorieren; also das Gegenteil von dem, was wir in der politischen Bildung erreichen wollen, nämlich den demokratischen Austausch.

Mit dem Begriff scheint es also ein Problem zu geben. Um zu verstehen, worin dieses Problem besteht, habe ich dem Psychologen Marius Raab, der sich intensiv mit dem Thema „Verschwörungstheorien“ auseinandergesetzt hat, ein paar Fragen gestellt:

Herr Raab, haben Sie schon einmal an eine Verschwörungstheorie geglaubt?

Aber klar! Ich war mir schon vor 2013 sicher, vor Edward Snowden, dass die enormen technischen Möglichkeiten – von Betriebssystemen, im Web 2.0, von Mobiltelefonen – zur Ausspähung genutzt werden. Wir können jetzt natürlich streiten, ob das damals eine Verschwörungstheorie war. Aber es war eine Annahme, dass sich Menschen und Organisationen im Geheimen verabreden, um im großen Stil moralisch und rechtlich zweifelhafte Dinge zu tun. Ich würde das als Verschwörungstheorie bezeichnen.

Gibt es eigentlich eine feste Definition des Begriffs „Verschwörungstheorie“?

Das ist tatsächlich ein Problem: nicht so richtig. Ein Forscher hat einmal sehr treffend geschrieben, dass jede:r Forschende seine eigene Definition hat und darauf zurückgreift. Das macht die Diskussion über das Phänomen schwierig. In einer sehr allgemeinen Sichtweise wäre ein Definitionsversuch: Eine Verschwörungstheorie ist ein in sich logisches System von Aussagen mit Vorhersagekraft und Realitätsbezug (Theorie), das sich auf die Annahme stützt, dass sich mehrere Menschen im Geheimen verabreden oder verabredet haben (Verschwörung).

Das ist auch wieder unbefriedigend. Sollten wir Spähaffäre und Maskendeals unter denselben Oberbegriff fassen wie Chemtrails und Mikrochips in Impfstoffen? Einige Forscher:innen schlagen beispielsweise vor, gerechtfertigte von ungerechtfertigten Verschwörungstheorien zu unterscheiden. Aber wer könnte so eine Unterscheidung zuverlässig treffen. Die Wissenschaft? Die Politik? Die Telegram-Community?

Verschwörungsideologie, Verschwörungsmythos, Verschwörungserzählung, Verschwörungsdenken… Warum gibt es so viele verschiedene Bezeichnungen? Welche sollte man denn nun verwenden?

Diese Begriffsvielfalt ergibt sich meiner Meinung nach aus genau diesem Unbehagen, das der Begriff Verschwörungstheorie mit sich bringt. Wir wollen da weiter differenzieren. Mit Ideologie, oder Mythos, oder Erzählung, … ersetzen wir den wertneutralen Begriff „Theorie“ mit einer Wertung. Das ist an sich gar nicht verkehrt, solange wir uns bewusst machen, dass wir dann über eine Teilmenge reden. Manche Verschwörungstheorien sind sehr ideologisch, also können wir sie auch so nennen. Viele Philosophen in dieser Debatte fordern seit Jahren, die Theorien nach dem jeweiligen Inhalt zu bewerten und zu behandeln, und nicht nach dem eher formalen Aspekt eines zu Grunde liegenden Verschwörungsnarrativs.

Warum sind Verschwörungstheorien ein Thema für einen Psychologen?

Der Glaube an eine Verschwörungstheorie kann das Wahrnehmen, Denken, Fühlen, und Handeln eines Menschen prägen. Psychologischer geht es kaum. Die spannende Frage ist: Wenn ein Mensch seinem Leben und der Welt Bedeutung gibt, warum und unter welchen Umständen wird er oder sie dabei auch Verschwörungstheorien zurückgreifen – wenn mehrere mögliche Erklärungen im Raum stehen?

Komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge müssen wir uns zwangsläufig in vereinfachter Form in unserem Kopf abbilden, als so genanntes Mentales Modell. Da es in der Realität tatsächlich geheime oder zumindest oft intransparente Vorgänge gibt, hat nach der allgemeinen Definition praktisch jeder Mensch ein paar kleine und große Verschwörungstheorien im Kopf. Subjektiv fühlt sich das anders an, das ist für uns eben gesicherte Erkenntnis, plausible Realität, schlicht die Wirklichkeit. Erst im Kontakt mit anderen Menschen, die anderes Vorwissen, andere Vorannahmen und eigene kulturelle Bezugsrahmen haben, merken wir vielleicht: Meine Wirklichkeit ist meine subjektive Theorie über die Welt und keineswegs allgemeinverbindlich.

Und wann werden Verschwörungstheorien zu einem Problem?

Wenn ein Mensch tatsächlich eine Verschwörungs-Ideologie vertritt und dann sehr rigide gegen Andersdenkende wird. Wenn Hetze und Vorurteile durch die Theorie begründet und weitergetragen werden. Man muss zwar sehen, dass Hass und Ausgrenzung auch ohne Verschwörungsannahmen möglich sind, aber Verschwörungstheorien eignen sich gut als Träger solcher Ideen. Die Unterstellung von verborgenen Aktivitäten ist naturgemäß schwer zu entkräften, weil sie eben im Geheimen stattfinden.

Es gibt auch Theorien, die Menschen zu selbst- oder fremdschädigendem Verhalten verleiten können. Wenn eine Skepsis in eine Totalopposition umschlägt und zum Beispiel alle Impfungen pauschal abgelehnt werden. Es ist doch ein Segen, dass beispielsweise Kinderlähmung und Tetanus beherrschbar sind. Und Verschwörungstheorien können einen Menschen gut emotional packen.

Kritisch sollten wir aber auch sehen, wenn der Begriff Verschwörungstheorie als Kampfbegriff gebraucht wird, um zum Beispiel politische Gegner zu diskreditieren. In Großbritannien haben schon öfters Premierminister begründete Hinweise auf Verfehlungen als Verschwörungstheorien abgekanzelt.

Warum glauben Menschen an solche Theorien? Warum auch dann noch, wenn gar keine Logik mehr dahinter zu erkennen ist?

Weil sie uns nicht nur gedanklich erreichen. Verschwörungstheorien sprechen uns auf der Gefühlsebene an. Ganz unabhängig vom Inhalt der Theorie: Das Finden verborgener Zusammenhänge erleben wir als belohnend, also als schön. Wir fühlen uns dann kompetent, und wir haben das subjektive Gefühl, die Welt besser zu verstehen. Vielleicht können wir sogar mit Gleichgesinnten in Kontakt kommen. Diese psychologischen Bedürfnisse können Verschwörungstheorien befriedigen. Aber ich würde diesen Aspekt der kontinuierlichen Bewertung von Information in den Vordergrund stellen, das so genannte „epistemische Monitoring“. Wir alle prüfen ganz automatisch die eingehende Information auf Plausibilität. Das ist ein ständig mitlaufender Bewertungsfilter, um das Tagesgeschehen zu interpretieren. Eine Verschwörungstheorie ist ein Filter, der Neuigkeiten auf Hinweise auf geheime Absprachen checkt.

Eine Logik ist aber meiner Meinung nach immer erkennbar. Wenn das nicht so wäre, würden wir von einem pathologischen Wahn sprechen. Da gibt es dann wirklich formale und inhaltliche Brüche. Selbst eine extreme Theorie wie die 5G-COVID-Bill Gates-Verschwörung ist in den Schlussfolgerungen nicht unlogisch. Die Vorannahmen, die Prämissen, sind da aber schlicht falsch.

Gibt es Menschen, die dafür anfälliger sind als andere, an Verschwörungen und Verschwörungstheorien zu glauben?

Die Studien zu den üblichen psychologischen Faktoren – Bildung, Intelligenz, Persönlichkeit – sind nicht besonders eindeutig. Was ich aber guten Gewissens aus der Studienlage ablesen kann:

Das Gefühl, dass man keine Stimme in der Gesellschaft hat, und dass man wenig Einfluss auf das eigene Leben hat: Das sind ganz wichtige Einflüsse. Das ist auch psychologisch plausibel. Ein Mensch will natürlich verstehen, warum er oder sie kein Gehör findet. Auch Menschen mit einem guten Einkommen können sich subjektiv so fühlen. Aber ganz klar: Viele Menschen sind in unserer Gesellschaft von der Teilhabe abgehängt und wollen verstehen warum.

Oft sehen wir in der Biografie dann auch Krisen, die rückblickend eine Hinwendung zu Verschwörungstheorien begünstigt haben. Das muss nichts Traumatisches sein: Streit mit dem Partner, ein paar tausend Euro Schulden. Aber das war dann der Moment, in dem die aktuelle Interpretation der Welt und der Zusammenhänge Risse bekommen hat.

Angesichts tatsächlicher Verschwörungen, über die wir ja schon gesprochen haben, würde ich aber noch einmal dafür plädieren, nicht Verschwörungstheorien generell als „red flag“ zu sehen. Es kommt immer auf den Inhalt an, der manchmal auch wirklich gefährlich sein kann. Vielleicht so: Sage mir Deine Verschwörungstheorie, und ich sage Dir, wer Du bist.

Marius Raab forscht und lehrt am Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er hat 2016 über experimentelle Ansätze zur Erforschung des Glaubens an Verschwörungstheorien promoviert. Weitere Schwerpunkte als Psychologe und Informatiker sind Digitalisierung und Virtualisierung für KMU, Spiel und Gamification, sowie Pixel-Ästhetik.

Skip to content