Ein Gespräch mit Uwe Lindemann
Die Metapher der Krake ist im Verschwörungsdenken besonders beliebt und wird immer wieder bemüht − so konnte man etwa kürzlich auf einer einschlägigen Webseite von der WHO als „Arm der Krake“ lesen. Das Tier findet sich auch immer wieder in den Titeln oder auf den Covern von Büchern mit verschwörungsideologischem Inhalt. Warum ist das so? Ich habe den Literaturwissenschaftler Uwe Lindemann, der ein Buch über das Thema geschrieben hat, dazu befragt.
Zunächst mal zu den grundsätzlichen Dingen, der Krake oder die Krake?
In der aktuellen Online-Ausgabe des Dudens steht, dass beides möglich ist – der Krake und die Krake. Schaut man jedoch in ältere, gedruckte Duden-Ausgaben, so ist der Krake männlich. Das Wort „Krake“ stammt aus dem Norwegischen, und mit der Entlehnung wurde auch das grammatische Geschlecht übernommen.
Dass der Krake nun auch „offiziell“ weiblich verwendet werden kann, hängt mit der modernen Imaginationsgeschichte des Kraken zusammen. Die Entscheidung der Dudenredaktion ist zweifellos eine Anpassung an den allgemeinen Sprachgebrauch. Diese Anpassung ist aber keineswegs so harmlos, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird der Krake in einen geschlechterpolitischen Kontext gestellt. Dabei wurden Kraken zunehmend weibliche Eigenschaften zugeschrieben, um ihre negativen Konnotationen entsprechend der damaligen Auffassung von Weiblichkeit zu verstärken.
Welche Eigenschaften sind das?
Klaus Theweleit hat in seiner berühmten Studie „Männerphantasien“ (1977/78) gezeigt, wie im 19. Jahrhundert Weiblichkeit über die Aspekte der Form und der räumlichen Orientierung in einen scharfen Kontrast zur Männlichkeit gesetzt wird. An die Leitdichotomie von flüssig (weiblich) und fest (männlich) schließen sich weitere Gegensätze an: die von unten und oben, beweglich und unbeweglich, weich und hart, nass und trocken sowie die von Entgrenzung und Eindämmung. Unten herrschen Schmutz und Schlamm, oben – beim Mann – Reinheit und Klarheit. Frauen wurden im medizinischen Diskurs der Zeit mit Natur und Krankheit, Männer mit Kultur und Gesundheit assoziiert.
Wann und warum kommt die Metapher des Kraken auf?
Die Vorstellungen von mythischen Meeresungeheuern, die an Kraken erinnern, reichen bis ins Mittelalter zurück. Zunächst ist der Riesenkrake ein Seeungeheuer unter vielen. In der Naturkunde um 1800 wird er sogar ins Reich der Fabelwesen verwiesen. Doch als 1861 ein französisches Schiff im Mittelmeer einen Riesenkraken, genauer gesagt einen Riesenkalmar fängt, wird aus dem vermeintlichen Fabelwesen eine unbestreitbare Realität. Jules Verne verarbeitete diese Episode in seinem Roman „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“ (1869/70), der bald in alle Weltsprachen übersetzt wurde. Drei Jahre zuvor ließ Victor Hugo in seinem Roman „Die Arbeiter des Meeres“ (1866) ebenfalls einen Kraken auftreten. Es ist kein Riesenkrake, aber der französische Schriftsteller entwickelt eine regelrechte Dämonologie des Kraken. Auf der einen Seite, so Hugo, steht der Satan, auf der anderen der Krake. Beide verkörpern das Prinzip der Negation schlechthin: physiologisch, ästhetisch, moralisch und metaphysisch. Mit Hugo und Verne beginnt die moderne Imaginationsgeschichte des Riesenkraken, der in den 1870er Jahren, zum Teil unter explizitem Bezug auf die Romane, Eingang in die politische Ikonographie findet.
Gab es Konjunkturen der Krakenmetapher?
Die Krakenmetapher hat immer dann Konjunktur, wenn es in Krisenzeiten um politische und/oder wirtschaftliche Machtfragen von transnationaler Bedeutung geht. Das beginnt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit dem modernen Imperialismus und der frühen Globalisierung, reicht über die beiden Weltkriege bis in die Gegenwart zur Angst vor totaler Überwachung (Stichwort: Datenkrake) und zur Corona-Krise. Dabei besitzt der Krake eine erstaunliche semantische Flexibilität. Er lässt sich leicht auf verschiedene Bereiche oder Phänomene übertragen: auf Wirtschaftsunternehmen, Staaten, Staatenbünde oder staatliche Institutionen wie Geheimdienste, Geheimgesellschaften und – nicht zuletzt – auf Staatsoberhäupter, Politiker oder Wirtschaftsbosse. Als Kraken dargestellt wurden bereits der russische Zar, Bismarck, Stalin, Hitler, Churchill, Putin, Trump, Merkel, Zuckerberg, Bill Gates – um nur einige Beispiele zu nennen.
Gab es Bedeutungsverschiebungen?
Aus meiner Sicht gibt es einen relativ festen Bedeutungskern, der je nach Kontext semantisch flexibel variiert werden kann. Von einem steuernden Zentrum aus soll die Peripherie kontrolliert werden. Der Kopf des Kraken symbolisiert das Zentrum, seine Tentakel stehen für die Mittel, mit denen ferngesteuert, infiltriert oder unterwandert werden soll. Es ist ein relativ einfaches Bild. Deshalb hat es einen hohen Wiedererkennungswert, nicht zuletzt wegen der ungewöhnlichen Form des Meeresbewohners, der nur aus Kopf und Armen zu bestehen scheint.
Was denken Sie? Warum ist diese Metapher im Verschwörungsdenken so erfolgreich?
In verschwörungstheoretischen Kontexten lässt sich die Verwendung erst relativ spät nachweisen. Vor 1900 konnte ich keine Beispiele finden. Verschwörungstheorien postulieren geheime Absprachen zwischen einzelnen Akteuren zur Kontrolle und Lenkung bestimmter Machtbereiche oder Einflusssphären durch eine oder mehrere Verschwörungen. Eine mächtige und wissende Minderheit lenkt die Geschicke der ohnmächtigen und unwissenden Mehrheit. Hinter der politischen, wirtschaftlichen, kulturell-sozialen Oberfläche gibt es also Kräfte, die das Oberflächengeschehen bestimmen. Der Krake scheint mit seiner Körperform (steuerndes Zentrum, ausführenden Tentakel, manipulierte Umwelt) dieses Verhältnis von bestimmender Minderheit und kontrollierter Mehrheit besonders gut veranschaulichen zu können.
Ein weiterer Grund für die Beliebtheit des Kraken im Rahmen negativ wertender politischer Rhetorik liegt in seiner starken affektiven Besetzung. Zwei Aspekte sind aus meiner Sicht entscheidend: seine Herkunft und seine Gestalt. Es taucht aus der Tiefe auf und zeigt uns die Fratze einer anderen, beängstigenden und unerwünschten Realität. Hinzu kommt das unförmige Aussehen des Tieres, das in vielerlei Hinsicht gängigen ästhetischen Vorstellungen widerspricht. Die Affekte, die sich mit dem Riesenkraken verbinden, sind Angst und Ekel: Angst vor seiner gigantischen Größe und Ekel vor seinem weichen, glitschigen und kalten Körper. Angst und Ekel sind zwei elementare Emotionen, weil sie nahegehen und unmittelbare Abwehrreaktionen (Flucht, Reinigung) hervorrufen.
Was hat der Krake mit Globalisierung zu tun?
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden die Ozeane zunehmend als planbare und beherrschbare Räume wahrgenommen. Seit dieser Zeit verkehren Schiffe regelmäßig nach Fahrplan auf den Weltmeeren und die Kontinente sind durch Telegrafenkabel miteinander verbunden. Die Welt erscheint als ein großes Geflecht ökonomischer und kommunikativer Beziehungen, in dem räumliche Distanzen zu schrumpfen scheinen.
Die moderne Tiefseeforschung erlebt im Zuge der Verlegung von Telegrafenkabeln auf dem Meeresgrund einen enormen Aufschwung. Dadurch etabliert sich mit der Tiefsee ein Raum, der den horizontalen „Schrumpfungsprozess“ an der Oberfläche vertikal durchkreuzt. Dieser Wandel in der räumlichen Orientierung geht einher mit einem Transfer maritimer Vorstellungen. Ab Mitte der 1860er Jahre – nicht zuletzt durch die Entdeckung real existierender Riesenkraken – verlagert sich der Aufenthaltsort der mythischen Ungeheuer vom Rand der Welt in die Tiefe. Die Krakenfaszination des späten 19. Jahrhunderts ist untrennbar mit der damals beginnenden Erforschung der Tiefsee verbunden, und diese wiederum ist, wie skizziert, unmittelbar mit der frühen Globalisierung verknüpft.
Auch für die politische Metaphorik, die seit der Antike mit nautischen Metaphern arbeitet, bringt die wissenschaftliche Entdeckung der Tiefsee Verschiebungen mit sich. Bis ins 19. Jahrhundert war das Staatsschiff nur den Unbilden des Wetters oder den Klippen vor der Küste ausgesetzt. Ab Ende des 19. Jahrhunderts droht auch Gefahr aus der Tiefe, vor allem von (globalen) Kraken, die angeblich ganze Schiffe (Staaten) versenken können.
Was hat der Krake mit Antisemitismus zu tun?
Zunächst einmal nichts. Zentral für die Übertragung der Krakenmetapher in antisemitische Kontexte ist die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung mit dem Ziel der Weltherrschaft, wie sie vor allem durch die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ (1903) popularisiert wurde. In diesem Text taucht die Krakenmetapher zwar nicht auf, aber die verschwörungstheoretische Denkfigur einer geheimen Lenkung von Politik, Wirtschaft, Presse und Religion durch eine Gruppe jüdischer Weltverschwörer wird ausführlich beschrieben. Bei späteren Ausgaben der „Protokolle“ findet sich der Krake aber auf den Buchumschlägen.
Im Zuge der Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung kommt es auch zu einer Verschränkung von Antisemitismus und Antiimperialismus. So wird z.B. das Britische Empire als insgeheim von Juden gesteuert angesehen und in diesem Zusammenhang dann der Krake als antisemitisches Bild verwendet.
Dazu gesellt sich ein aus heutiger Sicht abstruser Aspekt, der die Verwendung der Krakenmetapher in antisemitischen Kontexten zusätzlich attraktiv macht. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts glaubte man, dass die Saugnäpfe an den Tentakeln des Kraken dazu dienten, das Opfer auszusaugen. Im 19. Jahrhundert wurden Juden, vor allem jene, die im Finanzwesen tätig waren, häufig metaphorisch mit Blutsaugern gleichgesetzt. Auch die dem Kraken zugeschriebene Fähigkeit, seine Opfer auszusaugen, passte gut ins antisemitische Narrativ.
Was sind besonders bekannte Fälle, bei denen die Krakenmetapher auftauchte und weiterhin auftaucht?
In globalisierungskritischen Kreisen findet sich eine häufige Verwendung des Krakenbildes, ebenso werden große Technologiekonzerne wie Google, Meta (ehemals Facebook) oder Microsoft immer wieder als Kraken dargestellt. Wie bereits gesagt, wird die Krakenmetapher immer dann verwendet, wenn es um politische Fragen von transnationaler Bedeutung geht, in denen Machtverhältnisse thematisiert werden.
Welche Rolle spielen Literatur und Film bei der Verbreitung der Metapher?
Wie erwähnt, spielten die Romane von Verne und Hugo eine entscheidende Rolle bei der Popularisierung des Kraken Ende des 19. Jahrhunderts. Vernes Roman wurde bereits in der Frühzeit des Films, also kurz nach 1900, zweimal verfilmt: 1907 durch den Filmpionier Georges Mélies und 1916 durch Stuart Paton für Universal mit damals bahnbrechenden Unterwasserszenen. 1954 kostete die spektakuläre Krakenkampf-Szene in der Hollywood-Verfilmung von Vernes Roman rund eine Million Dollar. Mehr Geld war bis dahin noch nie für eine einzige Filmszene ausgegeben worden. In dem mit Stop-Motion-Technik gedrehten Horrorfilm „It Came from Beneath the Sea“ (1955) bedroht ein wahrhaft gigantischer Krake San Francisco; er wurde, so die Filmfiktion, durch einen Wasserstoffbombentest aus seinem Tiefseerefugium aufgescheucht. In zahlreichen James-Bond-Filmen werden Kraken verwendet, um Bonds Gegner oder deren kriminelle Organisationen zu charakterisieren; in „Fluch der Karibik 2“ (2006) taucht ein bösartiger Riesenkrake auf; einer der gefährlichsten Gegner von Spider-Man, Doctor Octopus, hat acht mechanische Arme, die mit seinem Körper verwachsen sind, und so weiter. In Romanen und Filmen wird das Stereotyp des bösartigen (Riesen-)Kraken seit mehr als 150 Jahren aufrechterhalten.
Aber der Krake wird doch seit einiger Zeit auch positiv gesehen, z.B. als besonders intelligentes Tier, etwa beim Fußballergebnisse vorhersagende Kraken Paul oder in der Oscar-prämierten Doku My Octopus Teacher. Wie lässt sich das einordnen?
Man könnte noch den „Septopus“ Hank aus „Finding Dory“ (2016), dem Sequel von „Finding Nemo“, ergänzen. Was diese Kraken von den genannten Riesenkraken unterscheidet, ist, dass sie klein und harmlos sind, und vor allem, dass ihnen menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben werden. Sie sind in keiner Weise bedrohlich und kommen nicht aus einer dem Menschen völlig fremden Welt: der dunklen, kalten, lebensfeindlichen Tiefsee.
Macht es einen Unterschied, ob man vom Oktopus oder vom Kraken spricht? Gibt es eventuell kulturelle Unterschiede?
Ja, aus meiner Sicht schon. Zum Beispiel kennt auch das Französische zwei Worte für Krake: „le pouple“ und „la pieuvre“. Das zweite Wort ist eigentlich eine regionale Bezeichnung und war vor der Veröffentlichung von Hugos Roman „Die Arbeiter des Meeres“ nur in der Gegend um die britischen Kanalinseln gebräuchlich. Mit dem großen Erfolg des Romans, in dem der Krake durchgehend als „pieuvre“ bezeichnet wird, änderte sich dies. Seitdem wird der Begriff „pouple“ im Französischen überwiegend in sachlich-neutralen Zusammenhängen verwendet, während „pieuvre“ eine deutlich negative Konnotation aufweist. Eine vergleichbare semantische Tendenz lässt sich bei den deutschen Begriffen Oktopus und Krake feststellen. Oktopus ist der neutralere Begriff, während Krake eher negativ konnotiert ist. Was die kulturellen Unterschiede betrifft, so hat der Oktopus in der asiatischen Kultur ganz andere Konnotationen und wird unter anderem als Glücksbringer angesehen. Ein weit verbreitetes Bild in der japanischen Kultur ist z.B. auch der betrunkene Krake.
Dr. Uwe Lindemann ist Dozent für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Seit vielen Jahren befasst er sich mit den Modernisierungsnarrationen des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere mit Blick auf die moderne Konsumkultur und die Darstellungsformen der ökonomischen Globalisierung. Sein Buch „Der Krake. Geschichte und Gegenwart einer politischen Leitmetapher“ ist 2021 im Kadmos Verlag erschienen.
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