75 Jahre Georg-von-Vollmar-Akademie e.V. (1948-2023)

„Alles Spinner oder was?“

Ein Gespräch mit Sarah Pohl

Das Thema „Verschwörungstheorien“ spaltet die Gesellschaft, aber manchmal auch – und das ist oft besonders schmerzhaft – die Familie oder den Freundeskreis. Mittlerweile gibt es in Deutschland mehrere staatlich geförderte Beratungsstellen, die helfen, wenn im privaten Umfeld ein Problem mit Verschwörungstheorien auftritt. Die Pädagogin Sarah Pohl leitet eine dieser Stellen: die Beratungsstelle ZEBRA / BW (Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen, Baden-Württemberg) in Freiburg. Ich habe Sie zu Ihrer Arbeit befragt.

Liebe Frau Pohl, warum kommen Menschen zu Ihnen in die Beratung?

Am häufigstem kommen Menschen zu uns, weil sie in Ihrem Freundes- oder Angehörigenkreis jemanden haben, um den sie in Sorge sind − weil derjenige neuerdings Meinungen vertritt, die herausfordern und von der eigenen Haltung abweichen. Viele Meinungsverschiedenheiten haben sich gerade während der Pandemie extrem zugespitzt. Verschwörungstheorien, aber genauso auch esoterische Konzepte, können Beziehungen herausfordern. Menschen, die uns kontaktieren, suchen oft nach Wegen, wie man sich zu solchen Themen austauschen kann, ohne dass es jedes Mal zum Streit kommt.

Ihr Buch heißt „Alles Spinner, oder was?“ Wie ist es denn nun? Sind das alles Spinner?

Das Umfeld nimmt die Betreffenden oft genauso wahr: als Spinner, Aluhütler und Verschwörungstheoretiker. Manchmal fallen diese stigmatisierenden Zuschreibungen auch im Gespräch − und auf dieser Basis ist dann in der Regel kein respektvoller Austausch auf Augenhöhe mehr möglich. Menschen, die etwas Anderes glauben, oder vom gesellschaftlichen Konsens abweichende Meinungen vertreten, sind jedoch keinesfalls Verrückte. Für die meisten erfüllen diese Überzeugungen, welche von außen oft bizarr anmuten, diverse sozialpsychologische Funktionen. Unsere Devise lautet deswegen: Verstehen statt verurteilen.

Welche Funktionen hat es, an Verschwörungstheorien zu glauben?

Gerade in Krisenzeiten kann der Glaube an Verschwörungstheorien eine Entlastungsstrategie sein. Verschwörungstheorien reduzieren Komplexität, können die Angst vor Unvorhersehbarkeit und Chaos weniger werden lassen, benennen Schuldige und liefern Interpretationen zum Weltgeschehen. Damit bieten sie dem, der an sie glaubt, Sicherheit und Orientierung. Menschen, die einen Sinn in Krisen entdecken, kommen meist leichter durch die Krise. Man kann etwas tun, beispielsweise in den Widerstand gehen − und fühlt sich so wieder handlungsfähiger. Neben dieser entlastenden Funktion können Verschwörungstheorien viele weitere Bedürfnisse erfüllen. Einige Menschen beispielsweise profitieren von der Selbstwerterhöhung. Es tut dem eigenen Ego gut, zu denjenigen zu gehören, die besser verstanden haben, was wirklich gespielt wird. Auch schwarz-weiß-Denken kann eine stabilisierende Funktion haben. Die Verschwörer sind die Sündenböcke. Indem man einen Sündenbock benennt, kann man von eigenen Fehlern und Versäumnissen ablenken und den Sündenbock für all das verantwortlich machen, was im eigenen Leben nicht so gut läuft. Weitere Wurzeln für Verschwörungsglauben können auch in biographischen Erfahrungen liegen. Dann etwa, wenn mit Vertretern des Staates ungünstige Erfahrungen gesammelt wurden, kann es zu einer Generalisierung dieser Erfahrungen kommen und eine misstrauische Haltung gegenüber dem Staat wird gefestigt. Die meisten Überzeugungen entstehen dort, wo unsere Gefühle zuhause sind. Meist wissen wir, ob sich etwas falsch oder richtig anfühlt, bevor wir rationale (oder irrationale) Gründe dafür benennen können. Eine Verschwörungstheorie kann sich deswegen richtig anfühlen, weil bestimmte Elemente sich mit erfahrungs- und affektbezogenen Aspekten überschneiden. Deswegen ist es so wichtig, verschiedenen Strategien im Umgang mit Verschwörungsgläubigen zu kennen und v.a. auch die Sprache der Gefühle zu sprechen.

Es geht also um Gefühle. Macht es uns deshalb oft so wütend, wenn andere an Verschwörungstheorien glauben?

Wir alle liegen gerne richtig und mögen es, uns mit Menschen zu umgeben, die uns in unserer Meinung bestätigen. Besonders dann, wenn uns jemand nahesteht, fällt es schwer, auszuhalten, dass diese Person eine abweichende Meinung vertritt. Deswegen suchen sich die meisten Menschen übrigens rasch einen Kreis, welcher dieselben Überzeugungen vertritt. Verschwörungstheorien können auch unsere Werteüberzeugungen herausfordern − gerade dann, wenn menschenverachtende, antisemitische oder rassistische Sündenböcke benannt werden.

Manchmal macht es auch wütend, wenn die Gegenseite nicht zuhört, jedes Argument abschmettert oder wenn das Thema omnipräsent ist. In solchen Fällen geht es stärker um die Frage, wie diskutiert wird und weniger um den konkreten Inhalt. Wenn Augenhöhe, Respekt und gegenseitige Wertschätzung verloren gegangen sind, leidet auch die Kommunikation.

Wie gehe ich damit um, wenn ich das Gefühl habe, gegen eine Wand zu reden?

Mit diesem Gefühl sind Sie nicht allein. Die meisten haben in Faktendiskussionen die frustrierende Erfahrung gemacht, dass auch die besten Argumente nichts nützen. Ganz im Gegenteil kann eine Diskussion auf Faktenebene auch dazu führen, dass man sich noch weiter auseinander bewegt. Wir raten dazu, stärker auf die Bedürfnisebene zu schauen und etwa Fragen zu stellen, welche auf das Verstehen von Gefühlen abzielen. Verständnis für jemanden, der an schräge Theorien glaubt, zu haben, bedeutet nicht Zustimmung. Verständnis bezieht sich eher auf die dahinterliegenden Bedürfnisse. Menschen, die sich so verstanden fühlen, werden meist ruhiger und es gelingt ihnen besser, sich selbst auch wieder auf andere Perspektiven einzulassen und der Gegenseite zuzuhören. Es kommt also viel auf die eigene Haltung an, mit welcher wir in ein Gespräch gehen. Wichtig ist es, selbst nicht Empathie, Wertschätzung und Augenhöhe zu verlieren. Obwohl jemand an Verschwörungstheorien glaubt, ist derjenige in erster Linie unser Bruder/unsere Mutter/unser Nachbar. Reduzieren Sie einen Menschen nicht auf seine Meinung. Vielleicht gelingt es Ihnen ja auch, Gemeinsamkeiten zu sehen, vielleicht fühlen Sie sogar ähnlich, sind beide wütend, ängstlich oder frustriert über die gegenwärtige Situation. Schauen Sie auf das, was verbindet und geben Sie dem, was trennt, nicht übermäßig viel Raum. Dazu ist es letztlich auch notwendig, sich und dem anderen immer wieder Pausen von dem Thema zu gönnen und klare Grenzen zu ziehen und menschenverachtende Einstellungen als solche zu benennen.

Besteht die Chance, dass der oder die andere „zurückkommt“? Kann ich etwas dafür tun?

Wenn es Ihnen gelingt, miteinander in Kontakt zu bleiben trotz unterschiedlicher Überzeugungen, dann haben sie bereits viel getan. Sie verhindern so, dass der oder die andere gänzlich in seiner Filterblase verloren geht und sich abgelehnt fühlt, was sich wiederum verstärkend auf Verschwörungsglauben wirkt.

Es gibt verschiedene weitere Aspekte, die Hoffnung machen: Zum einen sind die meisten Menschen v.a. in der Anfangsphase, wenn sie Überzeugungen ganz frisch für sich entdeckt haben, besonders fanatisch und anstrengend für das Umfeld. Mit einiger Zeit entwickeln Menschen auch wieder ein Gespür für die Begrenztheit ihres Wissens und beginnen im Idealfall selbst, wieder kritische Aspekte wahrzunehmen. Wer schonmal verliebt war, weiß, die Idealisierungen halten meist nicht ewig an. Genauso ist es mit Menschen, die sich in Verschwörungstheorien verliebt haben. Irgendwann beginnen auch diese Menschen, Widersprüchlichkeiten zu entdecken. Aber Vorsicht vor dem Romeo-und Julia-Effekt: Wenn das Umfeld in der Anfangsphase zu ablehnend reagiert, festigt dies die Bindung. Wenn jemand, der Verschwörungstheorien gerade ganz frisch für sich entdeckt hat, heftig dafür kritisiert wird, erreicht man womöglich das Gegenteil und der Betreffende schließt sich nur noch stärker diesen Überzeugungen an. Deswegen ist es wichtig, Kritik behutsam und wohl dosiert zu formulieren. Besser als Gegenrede kann es mitunter sein, Fragen zu stellen die sich nicht auf die Sachebene, sondern viel mehr auf die Bedürfnisebene beziehen. Meinungen ändern sich oft schleichend, und manchmal ist dies auch kein bewusster Prozess. Oft verändern sich auch nicht unbedingt die Überzeugungen, aber deren Bedeutung für das tägliche Leben nimmt ab.

Gibt es hier so etwas wie Erfolgsquoten? Muss ich mich darauf einstellen, dass sich die Beziehung vielleicht nicht wieder bessert?

Wenn es Ihr Ziel ist, den anderen besser zu verstehen, dann können die vorgestellten Techniken durchaus erfolgreich sein. Wenn es allerdings Ihr Ziel ist, den anderen verändern zu wollen, dann sieht es mit dem Erfolg schon anders aus. Machen Sie sich deutlich: Sie sind nicht verantwortlich für die Meinung des Anderen, nur derjenige selbst kann seine Meinung verändern und reflektieren. Manchmal sind die Auseinandersetzungen aufgrund von Verschwörungsglauben nur die Spitze des Eisberges und darunter liegen andere Konflikte und Themen. Gerade bei solchen Stellvertreterkonflikten können Auseinandersetzungen rund um Verschwörungsglauben einige andere schwierigen Themen zu Tage befördern. Dies ist Risiko und Chance gleichermaßen. Manchmal verbessern sich durch ehrliche Auseinandersetzungen Beziehungen längerfristig. Weil beide Seiten dadurch gelernt haben, sich einander in ihren Bedürfnissen, Ängsten und Gefühlen zuzumuten und zu zeigen. Doch manche Beziehungen zerbrechen auch.

Wie finde ich eine Beratungsstelle, wie Ihre?

Einige Bundesländer haben mittlerweile landesgeförderte Projekte, die zu Verschwörungstheorien beraten. Sie können jedoch auch bei uns anrufen und wir verweisen Sie ggf. an die richtigen Ansprechpartner weiter.

Sarah Pohl ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, systemische Paar- und Familienberaterin und leitet die landesgeförderte Beratungsstelle ZEBRA/BW seit 2020. Daneben ist sie Autorin einiger Bücher, demnächst wir das Buch „Zwischen den Welten. Filterblasenkinder verstehen und unterstützen“ von ihr erscheinen.

-> Lesen Sie hier das Gespräch mit Marius Raab aus dem letzten Newsletter

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